Wann ist’s genug?

„WANN IST’s GENUG?“ – so der Spruch, den ein junger Mann auf einer Corona-Demo vor sich herträgt (siehe SZ vom 28.12.2021). Vermutlich ist ihm nicht bewusst, wie gut er damit die psychosozialen Auswirkungen der Corona-Krise beschreibt, vor allem aber auch jener, die uns als Folge der bereits einsetzenden Umweltkatastrophen noch bevorstehen. Die große Mehrheit der unter 70-jährigen sind bisher von wirklichen Krisen verschont geblieben. Ein bisschen Inflation in den 1970ern, ein bisschen Strukturwandel – wohlgemerkt Wandel, kein Zusammenbruch – das war’s dann aber schon. Und nun Corona und seine spürbaren Einschränkungen einer für selbstverständlich genommenen Freiheit, die sich nicht selten aus Gedankenlosigkeit speist und häufiger längst in Egoismus und Selbstgerechtigkeit umgeschlagen ist. Die Frage, die er vor sich herträgt, spiegelt die tiefe Verunsicherung, die die Menschen zweifellos auch schon vor Corona gespürt haben ob der drohenden Veränderungen, die sich allenthalben abzeichnen. Die Welt, wie wir sie eigentlich schon seit den 1960ern kennen, gibt es nicht mehr, obwohl sich viele daran abarbeiten, den Schein aufrechtzuerhalten: Die Kluft zwischen Arm und Reich, der Klimawandel mit all seinen Auswirkungen, das Artensterben, die Umweltzerstörung, das Bevölkerungswachstum – die Liste ist lang und wer der Wissenschaft aufmerksam zuhört, bekommt eine Ahnung davon, was uns in Kürze bevorsteht und wie viele unserer liebgewonnenen Gewohnheiten nur noch dazu beitragen, die Krise zu verschärfen. Und damit lässt die eingangs gestellte Frage nur eine Antwort zu: Noch lange nicht – es fängt gerade erst an!

Prechtig oder …

Richard Davids Precht beklagt in der ZEIT vom 17.11.2021 die Intoleranz der Geimpften und beschwört eine vermeintlich antike Tugend, die „Selbstbeherrschtheit im Austeilen und Gelassenheit im Ertragen“. Si tacuisse … möchte man ihm entgegnen. Natürlich ist Toleranz ein konstitutives Moment jeder freiheitlichen Ordnung. Die Menschen mögen denken und glauben, wie es ihnen beliebt – solange dieser Glaube auf das Private beschränkt bleibt und nicht übergriffig wird. In einem pandemischen Geschehen bleibt die Frage, ob mensch sich impfen lässt oder nicht, aber keineswegs im Privaten, denn die Pandemie betrifft alle unmittelbar – lokal, regional und sogar global. Doch zurück zur Gelassenheit im Ertragen. Fordert er sie allen Ernstes von den Ärzten und Pflegern auf unseren Intensivstationen. Fordert er sie von all denen, die um ihr Leben fürchten müssen, weil dringend erforderliche Operationen ein ums andere Mal verschoben werden müssen, bis es vielleicht zu spät ist. Offensichtlich – hier aber stößt die Toleranz an ihre Grenze und sie einzuklagen bedeutet, die individuelle Befindlichkeit und den Egoismus bar jeder Verantwortung für die Anderen zum alleinigen Maßstab zu erheben. Übrigens endete für die Griechen Freiheit und Toleranz eben dort, wo die Polis in Gefahr geriet. Und dann waren sie unerbittlich!

Ehrenwerte Gesellschaft

Als Helmut Kohl im Jahre 1999 im Rahmen der Parteispendenaffäre über die Herkunft der Gelder befragt wurde, gab er an, er habe den Spendern sein Ehrenwort gegeben, ihre Anonymität zu wahren. Wenn er mithin sein Ehrenwort über das Gesetz stellt, dann befindet er sich zwar nicht in bester, aber doch in ehrenwerter Gesellschaft! (Vor 2017 – aber: Manche Kommentare sind einfach zeitlos!)

Das Gift der Nachhaltigkeit?

Nachhaltigkeit, so lautet das Zauberwort, das die Menschen aus der ökologischen Krise führen soll. Aber natürlich systemimmanent! Dabei sind Nachhaltigkeit und Kapitalismus eigentlich ein Widerspruch in sich! Denn im Kapitalismus interessiert es erst einmal nicht, was produziert wird, wie es produziert wird und welche Konsequenzen diese Produktion nach sich zieht. Kapitalistisches Wirtschaften heißt einzig, dass möglichst viele Menschen möglichst viel konsumieren, damit möglichst viel erwirtschaftet wird. Nachhaltiges Wirtschaften aber läuft auf einen möglichst geringen Ressourcenverbrauch für möglichst wenig Produkte hinaus: kurz – wir konsumieren nur das, was wir unbedingt brauchen – der Rest ist eben nicht nachhaltig, weil überflüssig! Und eben das ist Gift für unser Wirtschaftssystem.

In diesem Sinne sind die bisherigen Ansätze zum Klimaschutz nur wenig überzeugend: Wir brauchen nicht mehr Elektroautos – wir brauchen radikal weniger motorisierten Verkehr! Wir brauchen auch nicht mehr Recycling – wir brauchen weniger Müll, weniger Konsum und weniger Ressourcenverbrauch.

#BlackLivesMatter

Natürlich ist es traurig, dass es überhaupt eines Hashtags wie #BlackLivesMatter bedarf! Der andere aber, #EveryLivesMatter, als Reaktion auf eben diesen Aufschrei gegen den alltäglichen Rassismus, ist einfach nur widerlich, denn er ist der Versuch der Täter, sich in die Reihen der Opfer zu stehlen und sie darin noch zu verhöhnen: Ihr seid (und bleibt) Opfer – also spielt euch gefälligst nicht in den Vordergrund!!

Schutz des Eigentums

Im Live-Blog der tagesschau vom 29.04.2020 wird um 17:43 Dominik H. Enste vom Institut der Deutschen Wirtschaft mit den Worten zitiert, einen ultimativen Schutz des Lebens gebe es nicht. Nun, das ist zweifellos eine Binsenweisheit, nicht nur und nicht erst, seit es den Kapitalismus gibt, in dem das Leben der anderen noch nie viel gegolten hat. Wenn aber nun das Recht auf körperliche Unversehrtheit relativiert, das Leben der Geborenen zumindest in seinem aktuellen Wert zur Disposition gestellt wird, um mit den Ansprüchen anderer Güter verrechnet zu werden, was bedeutet das für rein materielle Werte wie das Recht auf Eigentum? Das scheint ganz offensichtlich nicht zur Diskussion zu stehen, bleibt weiterhin ein Tabu. Dabei liegt auf den Konten des besagten einen Prozents genug, um das kommende Elend nach von Corona aufzufangen.

Eines können wir zweifelsfrei konstatieren: Dominik H. Enste hat die Wertorientierung des Kapitalismus auf den Punkt gebracht: Einen ultimativen Schutz des Lebens gibt es nicht – nicht in der Corona-Krise, nicht in der Klima-Krise, nicht in den prekären Lebensverhältnissen weder in Asien, noch in Afrika oder Lateinamerika und nicht einmal in den Ghettos westlicher Metropolen.

Zu kurz gegriffen

Die bestehende Diskussion um den Klimawandel droht, die Herausforderung, der wir uns stellen müssen, unzulässig zu verkürzen: Wir reden nur noch über Maßnahmen zur Begrenzung des Temperaturanstiegs – dabei ist das nur ein Teil des Problems: die Müllberge, das Artensterben, die Vergiftung unserer Böden – kurz: die unfassbare Verschwendung noch jeder Ressource. Wir sind längst nicht aus dem Schneider, wenn wir ein Weg gefunden haben, freigewordenes CO2 wieder zu binden und zu lagern, wenn wir am Ende doch noch die längst überholt geglaubte Atomenergie wiederbeleben. Wir müssen radikal umdenken und unser Verhalten grundsätzlich ändern. Das aber rüttelt an den Fundamenten unseres Wirtschaftens: der Illusion endlosen Wachstums in einer Welt begrenzter Ressourcen.

Die Abwesenheit der Vernunft

Vernunft war noch nie die treibende Kraft menschlichen Handelns, schon gar nicht in der Politik. Aber die Diskussion um die Kohle lässt das ganze Ausmaß der Irrationalität deutlich werden! In der öffentlichen Diskussion werden vor allem die Arbeitsplätze angeführt, die einem schnellen Ausstieg im Wege stehen. Dabei ist es längst unstrittig, dass jede weitere Verstromung der Kohle immer gravierendere Folgeschäden verursachen wird, die vielleicht nicht mehr wir, auf jeden Fall aber unsere Kinder und Enkel werden schultern müssen. Wohlgemerkt – es geht nicht nur um rein wirtschaftliche Kosten, um entgangene Gewinne und einen möglichen Verfall der Firmenanteile, es geht um Ernteausfälle, um immer längere Hitzeperioden und ihre Todesopfer. Das daraus resultierende Leid, die daraus resultierenden Schäden werden die Kosten, die durch die Aufgabe des Tagebaus entstehen, um ein Vielfaches übersteigen. Aber keine Frage: letztere gehen zu Lasten der Unternehmensgewinne und der Steuerzahler, d.h. der Wähler. Demgegenüber haben die später Geschädigten schlicht keine Stimme – und unsere liberale Gesellschaftsordnung lebt halt ganz nach der Devise: Jeder ist seines Glückes Schmied. Pech, wenn er noch keinen Hammer schwingen kann …

Notwehr

Es ist inzwischen unstrittig, dass der Klimawandel auch heute schon Opfer fordert und dass die Zahlen steigen werden – nicht nur in weit entfernten Regionen, sondern eben auch hier bei uns. Somit ist zumindest der CO2-Ausstoß, der schlicht überflüssig, weil nicht unmittelbar als existenzerhaltend legitimiert ist, eine potenzielle Körperverletzung, teils fahrlässig, teils vorsätzlich. Dass immer mehr Kommunen und Staaten den Klimanotstand ausrufen, trägt diesem Umstand Rechnung. Und wenn die eigene Existenz bedroht ist, ist Notwehr eine legitime Reaktion. Es fragt sich also nur noch: Wie konkret und unmittelbar muss diese Existenzbedrohung sein bzw. wie massiv und erwartbar. Müssen unsere Kinder es hinnehmen, dass einzelne, ganz gleich, ob privat oder in öffentlichem Auftrag, ihre künftige Handlungsfreiheit, ihre Gesundheit und gar ihr Leben durch Gleichgültigkeit, Ignoranz und Gier verspielen? Wann ist es gerechtfertigt, dem ein Ende zu bereiten? Und wann ist es eine Pflicht?