Wenn der Rechtsstaat an seine Grenzen stößt

Die Klimakrise ist die existenzielle Bedrohung, vor der uns und kommende Generationen zu schützen der Staat die Pflicht hat. Kommt er dieser Verpflichtung nicht nach, delegitimiert er sich grundlegend.

Dabei ist die nahende Klimakatastrophe zugleich eine unmittelbare Bedrohung auch für die Demokratie. Ihr Kern, die auf allgemeinen und freien Wahlen beruhende Mehrheitsentscheidung verliert jede Legitimität. Kinder und junge Menschen, Menschen in weit entfernten Regionen – sie müssen es nicht hinnehmen, wenn überwiegend senile Egomanen, die die Konsequenzen ihres Handelns kaum noch werden erleben müssen oder sie schlicht ignorieren, mit hoher Wahrscheinlichkeit die Lebensgrundlagen und die Aussicht auf ein Leben in Selbstbestimmung mutwillig zerstören. Zumindest diese in ihrer Existenz bedrohte Generation hat jedes Recht, die kommende Katastrophe aufzuhalten, so weit noch irgend möglich – mit allen Mitteln und mit aller Macht – auch gegen vermeintliche Mehrheiten!

Aber die Demokratie! nun, wurde sie nicht eigentlich schon in dem Moment zu Grabe getragen, in dem das Gewicht des Kapitals es zugelassen hat, dass Minderheiten mit milliardenschweren Desinformationskampagnen jede freie Meinungsbildung zur Farce werden ließen und das Ideal einer auf rationalen Konsens setzende Gesellschaft der Lächerlichkeit preisgegeben hat?

Im Würgegriff der schwarzen Null

Es ist beruhigend, einen Finanzminister zu haben, der sich auch um künftige Generationen sorgt. Schon allein in ihrem Interesse, so betont er immer wieder, müssen wir die Schuldenbremse einhalten – koste es, was es wolle. Da dürfen die jungen Menschen aber beruhigt in die Zukunft blicken, denn sie wissen: Wenn die Klimakatastrophe erst einmal richtig über sie hereinbricht und kein Geld dieser Welt mehr die Schäden wird kompensieren können, sind sie doch wenigstens schuldenfrei!

Wie viel Reichtum können wir uns noch leisten?

Wie viel Reichtum können wir uns noch leisten? Dass das Vermögen des reichsten Prozents der Weltbevölkerung auch in den Krisenzeiten beständig wächst, ist kein Geheimnis. Aktuell brisanter ist die Tatsache, dass eben dieses eine Prozent für mehr als doppelt so viel CO2 verantwortlich ist wie die ärmere Hälfte der Menschheit.1 Man mag das Skandal nennen – aber das trifft den Kern noch nicht: Wenn es um das Klima und die Einsparung von CO2-Emissionen geht, dürfen wir sicher sein, das diese ärmere Hälfte wohl kaum dazu beitragen kann. Die Zahl lässt aber ahnen, dass es vielleicht nicht einmal reicht, wenn das Gros der anderen Hälfte seinen Konsum und damit seinen CO2-Ausstoß deutlich drosselt – das besagte Prozent wird die Einsparungen schon zu kompensieren wissen. Insofern muss die oben gestellte Frage korrigiert werden: Nicht wie viel Reichtum ist die Frage als vielmehr: Wie viele Reiche kann sich dieser Planet noch leisten?

1 Vgl. Von König Midas lernen, taz-Kolumne von Ilija Trojanow, 14.10.2020 – https://taz.de/Die-Verantwortung-von-Superreichen/!5717517&s=trojanow/

Besser spät als nie?

Altmeier hat nun eingestanden, dass er sich über die Jahre geirrt hat und darum in seiner bisherigen Laufbahn schlicht die falschen Prioritäten gesetzt hat. Natürlich ist man geneigt zu sagen: Besser spät als nie – selbst wenn es eigentlich schon zu spät ist. Zukünftig will er sich jedenfalls für eine Charta für Klimaschutz und eine starke Wirtschaft einsetzen. Die SZ vom 12.09.2020 zitiert ihn mit den Worten: „Das wäre ein historischer Kompromiß“. Diese Sichtweise indes ist verräterisch und macht deutlich, dass die Kehrtwende eigentlich keine ist: Sie suggeriert, dass wir es mit zwei Konfliktparteien zu tun haben, die sich aufeinander zu bewegen können – und wollen. Das Klima allerdings ist unserem Wohlbefinden gegenüber schlicht indifferent und – betrachtet man nur die späktakulärsten Auswirkungen, nämlich die verheerenden Brände in Nordamerika und Australien – eigentlich kompromisslos! Tendiert man darüber hinaus zu der Annahme, dass wesentliche Klima-Kipppunkte längst überschritten sind – dann ist die späte Einsicht nur eine andere Form der Verblendung, die Handlungsfähigkeit dort suggeriert, wo wir nur noch Getriebene sind.

Keine Verunsicherung bitte!

Schon de Maizière wollte es 2015 nach der kurzfristigen Absage eines Fußball-Länderspiels aufgrund einer Terrorwarnung unbedingt vermeiden, Teile der Bevölkerung zu verunsichern, und schwieg darum zu konkreten Erkenntnissen über die Gefährdungslage. Heute ist es Andy Scheuer, der davor warnt, Teile der Bevölkerung, diesmal Unternehmer und Manager, kurz: die Wirtschaft, nicht zu verunsichern, „wenn man jetzt mit überzogene Werten die falschen Signale in die Welt setzt“. Zugegeben – Gründe zur Verunsicherung sind durchaus gegeben – aber vor allem dann, wenn unsere Ziele nicht ehrgeizig genug sind und hinter den globalen Klimaveränderungen hinterherhinken.

Zu kurz gegriffen

Die bestehende Diskussion um den Klimawandel droht, die Herausforderung, der wir uns stellen müssen, unzulässig zu verkürzen: Wir reden nur noch über Maßnahmen zur Begrenzung des Temperaturanstiegs – dabei ist das nur ein Teil des Problems: die Müllberge, das Artensterben, die Vergiftung unserer Böden – kurz: die unfassbare Verschwendung noch jeder Ressource. Wir sind längst nicht aus dem Schneider, wenn wir ein Weg gefunden haben, freigewordenes CO2 wieder zu binden und zu lagern, wenn wir am Ende doch noch die längst überholt geglaubte Atomenergie wiederbeleben. Wir müssen radikal umdenken und unser Verhalten grundsätzlich ändern. Das aber rüttelt an den Fundamenten unseres Wirtschaftens: der Illusion endlosen Wachstums in einer Welt begrenzter Ressourcen.

Wenn Verbote schützen

Eigentlich schreit die drohende Klimakatastrophe nach vielfältigen Verboten. Aber das – so lässt sich dem politischen Diskurs entnehmen – wäre das Schlimmste, was der Gesetzgeber dem mündigen Bürger einer freien Gesellschaft zumuten könnte. Und so ist das Schlimmste, was wiederum einer Partei derzeit passieren kann, als Verbotspartei denunziert zu werden. Dabei hat sich längst gezeigt, dass Appelle an die Vernunft bei der Lösung unserer Probleme zwar nicht wirkungslos sind – aber das Konsumverhalten auch der Mehrheit müsste sich jetzt ändern, nicht erst in den kommenden Generationen.

Also vielleicht sollten wir uns einmal vor Augen halten, dass Kultur überhaupt sich dem Tabu und dem Verbot verdankt, dass am Anfang insbesondere der abrahamitischen Religionen das Wort Gottes steht: das Gesetz. Und ganz gleich, ob religiös oder nicht: Wer möchte schon darauf verzichten, etwa auf den Schutz der körperlichen Unversehrtheit? Und was ist das Verbot von CO2-Emissionen, von Feinstaub in der Luft, von Plastik oder Glyphosat in der Nahrungskette, von Nitrat oder Antibiotika im Grundwasser etc. etc., was sind denn diese notwendigen Verbote anderes als eben der ausnahmslos allen zustehende Schutz der körperlichen Unversehrtheit?

„Change the system, not the climate“

Es ist durchaus offen, ob es ein anderes System (noch) schaffen kann, das Schlimmste zu verhindern – zumal sich ein anderes gegenwärtig kaum abzeichnet, zumindest nicht als konkretes Modell. Es darf allerdings als sicher angenommen werden, dass dies dem Kapitalismus und der repräsentativen Demokratie kaum gelingen wird. Politik und Wirtschaft sind frühzeitig gewarnt worden und hatten nahezu 50 Jahre Zeit, durch behutsame Lenkung die Entwicklung eines nachhaltigen Wirtschaftens auf den Weg zu bringen. Statt dessen haben sie die zerstörerischen Kräfte des kapitalistischen Systems immer mehr entfesselt. Der Kapitalismus der letzten zweihundert Jahre jedenfalls ist nur noch eines: die Bankrotterklärung der menschlichen Vernunft – und unserer demokratischen Strukturen.

Bar jeder Vernunft

Die Klimapolitik (nicht nur) der Bundesregierung ist der verzweifelte Versuch, das Ruder herumzureißen, ohne die Richtung zu wechseln. Wir haben den (leider kaum genügenden) Anspruch, innerhalb einer Generation CO2-neutral zu leben – unseren auf Verschwendung und unmäßigen Konsum ausgerichteten Lebensstil aber möchten wir eigentlich lieber nicht ändern. Langfristig soll beispielsweise das Elektroauto unsere hohen Ansprüche an individuelle Mobilität retten. Dabei übersehen wir einen entscheidenden Punkt: Was immer wir so an schädlichen Emissionen und knappen Ressourcen einsparen, es wird nicht reichen, um das Klima zu bewahren und gleichzeitig allen Menschen unseren Lebensstandard zu erlauben. Wir werden also doch lernen müssen zu verzichten! Warum karren wir beispielsweise Trinkwasser kreuz und quer durch Europa, obwohl eigentlich überall genügend sauberes Wasser lokal verfügbar ist. Damit jeder die Marke seiner Wahl trinken kann, ganz gleich, wo er ist und ganz gleich, wie teuer uns dieser Luxus zu stehen kommt?

Wie wäre es, wir fangen genau jetzt mit dem Verzicht schon mal an – zumindest da, wo es nicht einmal weh tut? Die Frage ist hier eigentlich nicht, wie und warum wir den Transport von Wasser, von einigen regionalen Ausnahmen abgesehen, verbieten sollten – die Frage ist, wie kann er überhaupt erlaubt sein?