Prechtig oder …

Richard Davids Precht beklagt in der ZEIT vom 17.11.2021 die Intoleranz der Geimpften und beschwört eine vermeintlich antike Tugend, die „Selbstbeherrschtheit im Austeilen und Gelassenheit im Ertragen“. Si tacuisse … möchte man ihm entgegnen. Natürlich ist Toleranz ein konstitutives Moment jeder freiheitlichen Ordnung. Die Menschen mögen denken und glauben, wie es ihnen beliebt – solange dieser Glaube auf das Private beschränkt bleibt und nicht übergriffig wird. In einem pandemischen Geschehen bleibt die Frage, ob mensch sich impfen lässt oder nicht, aber keineswegs im Privaten, denn die Pandemie betrifft alle unmittelbar – lokal, regional und sogar global. Doch zurück zur Gelassenheit im Ertragen. Fordert er sie allen Ernstes von den Ärzten und Pflegern auf unseren Intensivstationen. Fordert er sie von all denen, die um ihr Leben fürchten müssen, weil dringend erforderliche Operationen ein ums andere Mal verschoben werden müssen, bis es vielleicht zu spät ist. Offensichtlich – hier aber stößt die Toleranz an ihre Grenze und sie einzuklagen bedeutet, die individuelle Befindlichkeit und den Egoismus bar jeder Verantwortung für die Anderen zum alleinigen Maßstab zu erheben. Übrigens endete für die Griechen Freiheit und Toleranz eben dort, wo die Polis in Gefahr geriet. Und dann waren sie unerbittlich!

Dialektik der Identitätspolitik

Vielleicht auch als Gegenbewegung zur Globalisierung und der langen Geschichte der Diskriminierung zugleich lässt sich die Tendenz beobachten, identitätsstiftenden Merkmalen eine herausragende Bedeutung zu verleihen oder zurückzugeben. Man mag das auch als neues Selbstbewusstsein deuten, als Schritt, der aus einem ausschließenden Merkmal ein auszeichnendes macht. Doch man darf nie vergessen, dass diese Sichtweise impliziert, dass das einstmals Trennende als eben solches festgeschrieben wird, nur mit neuem Vorzeichen. Und dann verstetigt es nur, was es überwinden soll: die Diskriminierung.

Identitätspolitik

Die polemische Herabsetzung einer koreanischen Boygroup durch einen Radiomoderator rief einen Shitstorm hervor, in dessen Folge sich der Sender entschuldigte: „Wenn Aussagen von vielen Menschen als beleidigend und rassistisch empfunden werden, dann waren sie es auch.1 Größeren Unsinn kann man kaum von sich geben! Die Erde wird nicht dadurch flacher, dass es viele behaupten und ein Mord bleibt auch dann ein Mord, wenn eine fanatische Masse ihn begrüßt. Nun, man mag einwenden, dass dies auf Fragen des Glaubens, des Geschmacks und der kulturellen Identität nicht einfach übertragbar ist. Doch das ist falsch! Natürlich: Eine Herabwürdigung aus Gründen der Zugehörigkeit zu ethnischen, kulturellen oder religiösen Gruppen ist – ganz gleich ob Minderheit oder Mehrheit – indiskutabel, jedem Versuch ist entschieden zu begegnen. Damit aber sind in einer Welt der Vielfalt selbst Angehörige von Minderheiten nicht automatisch einer möglichen Kritik entzogen, nicht einmal einer polemischen! Zweifelhafte Ausdünstungen der Kulturindustrie bleiben zweifelhaft, ganz gleich, wer für sie verantwortlich zeichnet – und selbst autoritäts- und identitätsstiftende Symbole bleiben angreifbar und mögliches Ziel für Hohn und Spott, ganz gleich, wie viele oder wenige ihnen huldigen! Das ist der Kern der Aufklärung, den kein Shitstorm in Frage stellen kann!

1Zitiert nach Jochen Bittner, Dein Mitbürger, der Unterdrücker; in: Die Zeit Nr. 11/2021, 11.03.2021
https://www.zeit.de/2021/11/identitaetspolitik-rassismus-soziale-gerechtigkeit-intersektionalitaet; siehe auch Zotero