Der Blick zurück verstellt den Blick nach vorn

Ungarn ist ein gutes Beispiel für das, was gerade in Europa – aber nicht nur dort – passiert: Natürlich verändert sich die Welt in einem rasanten Tempo, hat man schnell das Gefühl, dass die Gegenwart fremd und die Zukunft gänzlich unverständlich und um so bedrohlicher erscheint. Der Wandel macht Angst – und dieser Angst versuchen viele Menschen Herr zu werden, indem sie sich verzweifelt an die Vergangenheit klammern. Nüchtern betrachtet ist die Inszenierung anlässlich des Nationalfeiertags, die doch sehr an einen Rosenmontagszug erinnert, schlicht lächerlich. Sie mag Balsam für die geschundene Seelen sein, zukunftsweisend ist sie wahrlich nicht. Wenn das die Strategie zur Zukunftsbewältigung ist – Ungarn stehen schwere Zeiten bevor! Und auch allen anderen, die mit dieser rückwärtsgewandten Sehnsucht die Herausforderungen der Zukunft meistern wollen. Nehmen wir die vermeintliche Flüchtlingskrise:Noch kommen – nur – ein paar Millionen, weil sie hier den Frieden und das Auskommen erhoffen, die es in ihrer Heimat nicht mehr gibt. Angesichts der europäischen Bevölkerungszahlen und unseres zwar nicht gerecht verteilten, aber doch vorhandenen Reichtums eigentlich keine wirkliche Herausforderung. Die wird uns erst ereilen, wenn die Klimaflüchtlinge kommen – sei es weil sie kein Land mehr haben, sei es, dass es ihnen an Nahrungsmitteln und Wasser mangelt. Und diese Menschen – diese Menschen werden keine Zäune, keine Meere nicht einmal Waffen abschrecken, denn für sie wird es einfach kein Zurück mehr geben.

Willkommen in der Mitte der Gesellschaft

Seit sich die Ereignisse in Folge der steigenden Flüchtlingszahlen verschärfen, betonen immer mehr Politiker und Journalisten, dass die lautstarken bis handgreiflichen Proteste gegen die weitere Aufnahme von Flüchtlingen nicht nur von einigen wenigen Verwirrten am rechten Rande der Gesellschaft getragen werden, sondern auch mehr und mehr von Menschen „aus der Mitte der Gesellschaft“. Was aber soll das eigentlich heißen? Was oder wo soll diese Mitte der Gesellschaft sein?

Wenn wir diese Mitte der Gesellschaft nicht genauer verorten können – was bezwecken Politik und Medien mit diesem Hinweis? Die Mitte der Gesellschaft – sie soll als Inbegriff des Vernünftigen und Guten verstanden werden, als Fluchtpunkt des demokratischen Konsenses – da sich nicht nur rechts und sondern glücklicherweise auch links diskreditiert haben. Wenn aber nunmehr Menschen, die vermeintlich dieser Mitte entstammen, übergriffig werden, dann meint der Hinweis auf die Mitte der Gesellschaft genau dieses: Seht her, wie sehr eure (natürlich falsche) Politik die Menschen zur Verzweiflung treibt und welches Ausmaß die (natürlich berechtigten) Ängste dieser harmlosen Bürger inzwischen angenommen haben. Wer will da noch widersprechen?

Dieser Hinweis bewirkt also vor allem eines: Dass die Auseinandersetzung über unsere gemeinsamen Werte sich erübrigt, in deren Verlauf wir vielleicht feststellen müssten, dass die Mehrheit sich gerade von den zentralen Werten verabschieden – so, wie es bei unseren östlichen Nachbarn längst geschehen ist.

Wie beängstigend diese Mitte längst ist, zeigen nicht nur, aber eben auch die selbsternannten Bürgerwehren, die sich plötzlich überall zusammenrotten, weil das staatliche Gewaltmonopol angeblich versagt hat. Vor wem aber wollen Sie uns schützen, diese braven Bürger? Vor den zahlreichen Brandstiftern, die den Flüchtlingen sagen wollen, dass sie sich hier nicht in Sicherheit wiegen sollen? Vor dem rechten Mob, der seit Jahren bereits nachts Jagd macht auf vermeintlich Fremde. Vor sexistischen Übergriffen wie von diesen Pick-Up-Artists, die glauben, Mann könne aus einer frauenverachtenden Haltung oder psychischen Störungen eine Kunst machen? Vor all den anderen Sexualstraftätern, die seit Jahr und Tag ihr Unwesen treiben und – ja genau – allesamt aus der Mitte unserer Gesellschaft stammen, wie die Opfer in den Internaten und Kinderheimen bezeugen können. Nun, die neuen Bürgerwehren werden diesen Gefahren, denen wir bereits seit Jahrzehnten ausgesetzt sind, wohl eher keine Aufmerksamkeit schenken. Sie halten Ausschau nach dem Anderen, das ihre Vorurteile bestätigt und niedere Instinkte nährt. Insofern dürfen wir all den Kriminellen und Verstörten aus anderen Ländern, die natürlich auch den Weg zu uns finden, vielleicht schon bald zurufen: Willkommen in der Mitte der Gesellschaft!

In guter Gesellschaft

Es scheint, als sei der hässliche Deutsche doch nur eine verschwindende Minderheit im Land. Dafür gesellen sich andere an seine Seite: allen voran der hässliche Ungar, gefolgt vom hässlichen Polen, dem hässlichen Tschechen und dem hässlichen Slowaken. Der Auftritt ihrer politischen Führung in Prag hinterlässt jedenfalls einen äußerst faden Geschmack, haben diese Länder bisher doch nicht wenig von der Solidarität der Europäer profitiert. Da ihnen aber die Gastfreundschaft gegenüber Flüchtlingen so fremd ist – ganz gleich, ob diese der nackte Gewalt oder dam blanken Elend weichen –, werden sie bestimmt so konsequent sein und künftig keine weiteren Hilfen der EU mehr in Anspruch nehmen. Die könnte die EU dann den vertriebenen Menschen zur Verfügung stellen.

Nachtrag: Zugegeben – es ist schlicht Fassungslosigkeit, besser: Empörung, die hier zum Ausdruck kommt. Aber natürlich ist Europa reich genug, um den notleidenden Menschen helfen zu können, ohne anderen gleich die Unterstützung streitig machen zu müssen. Es fehlt allenfalls der politische Wille, um eben jene in die Pflicht zu nehmen, die an dem Elend in der Welt bisher mehr als gut verdient haben …