Die Abwesenheit der Vernunft

Vernunft war noch nie die treibende Kraft menschlichen Handelns, schon gar nicht in der Politik. Aber die Diskussion um die Kohle lässt das ganze Ausmaß der Irrationalität deutlich werden! In der öffentlichen Diskussion werden vor allem die Arbeitsplätze angeführt, die einem schnellen Ausstieg im Wege stehen. Dabei ist es längst unstrittig, dass jede weitere Verstromung der Kohle immer gravierendere Folgeschäden verursachen wird, die vielleicht nicht mehr wir, auf jeden Fall aber unsere Kinder und Enkel werden schultern müssen. Wohlgemerkt – es geht nicht nur um rein wirtschaftliche Kosten, um entgangene Gewinne und einen möglichen Verfall der Firmenanteile, es geht um Ernteausfälle, um immer längere Hitzeperioden und ihre Todesopfer. Das daraus resultierende Leid, die daraus resultierenden Schäden werden die Kosten, die durch die Aufgabe des Tagebaus entstehen, um ein Vielfaches übersteigen. Aber keine Frage: letztere gehen zu Lasten der Unternehmensgewinne und der Steuerzahler, d.h. der Wähler. Demgegenüber haben die später Geschädigten schlicht keine Stimme – und unsere liberale Gesellschaftsordnung lebt halt ganz nach der Devise: Jeder ist seines Glückes Schmied. Pech, wenn er noch keinen Hammer schwingen kann …

Notwehr

Es ist inzwischen unstrittig, dass der Klimawandel auch heute schon Opfer fordert und dass die Zahlen steigen werden – nicht nur in weit entfernten Regionen, sondern eben auch hier bei uns. Somit ist zumindest der CO2-Ausstoß, der schlicht überflüssig, weil nicht unmittelbar als existenzerhaltend legitimiert ist, eine potenzielle Körperverletzung, teils fahrlässig, teils vorsätzlich. Dass immer mehr Kommunen und Staaten den Klimanotstand ausrufen, trägt diesem Umstand Rechnung. Und wenn die eigene Existenz bedroht ist, ist Notwehr eine legitime Reaktion. Es fragt sich also nur noch: Wie konkret und unmittelbar muss diese Existenzbedrohung sein bzw. wie massiv und erwartbar. Müssen unsere Kinder es hinnehmen, dass einzelne, ganz gleich, ob privat oder in öffentlichem Auftrag, ihre künftige Handlungsfreiheit, ihre Gesundheit und gar ihr Leben durch Gleichgültigkeit, Ignoranz und Gier verspielen? Wann ist es gerechtfertigt, dem ein Ende zu bereiten? Und wann ist es eine Pflicht?

Recht auf Eigentum?

Es gibt kein Recht auf Eigentum, soweit es unmittelbar oder mittelbar auf Kosten Einzelner oder des Gemeinwohls erwirtschaftet wird. Das aber bedeutet in letzter Konsequenz, dass unsere Eigentumsverhältnisse letztlich nicht legitimieren lassen – ganz gleich, ob wir die großen Vermögen oder die kleinen Besitztümer in den Blick nehmen. Kalkulieren wir beispielsweise die Kosten des Individualverkehrs mit all der Schadstoffbelastung von Luft, Boden und Wasser, dem Flächenverbrauch, dem Lärm, den Verkehrsopfern – wer könnte sich noch ein Auto leisten, wenn er für all das aufkommen müsste, was seiner persönlichen Verantwortung unterliegt, was von den Gewinnen der Automobilbranche bliebe übrig? Nichts anderes gilt für die Mineralölindustrie, die industrielle Landwirtschaft, die Unterhaltungselektronik etc. Und all die kleinen Besitztümer, die die Menschen sich durch ihre Arbeit in nicht ganz schlecht bezahlten abhängigen Beschäftigungsverhältnissen zusammengespart haben – sind sie in diesem Sinne legitim? Jedenfalls scheint es vor diesem Hintergrund mehr als gerechtfertigt, mit den aktuellen Eigentumsverhältnissen auch das unbedingte Primat des Eigentums vor nahezu allen anderen Werten in der bürgerlichen Gesellschaft grundsätzlich in Frage zu stellen.

Wenn Verbote schützen

Eigentlich schreit die drohende Klimakatastrophe nach vielfältigen Verboten. Aber das – so lässt sich dem politischen Diskurs entnehmen – wäre das Schlimmste, was der Gesetzgeber dem mündigen Bürger einer freien Gesellschaft zumuten könnte. Und so ist das Schlimmste, was wiederum einer Partei derzeit passieren kann, als Verbotspartei denunziert zu werden. Dabei hat sich längst gezeigt, dass Appelle an die Vernunft bei der Lösung unserer Probleme zwar nicht wirkungslos sind – aber das Konsumverhalten auch der Mehrheit müsste sich jetzt ändern, nicht erst in den kommenden Generationen.

Also vielleicht sollten wir uns einmal vor Augen halten, dass Kultur überhaupt sich dem Tabu und dem Verbot verdankt, dass am Anfang insbesondere der abrahamitischen Religionen das Wort Gottes steht: das Gesetz. Und ganz gleich, ob religiös oder nicht: Wer möchte schon darauf verzichten, etwa auf den Schutz der körperlichen Unversehrtheit? Und was ist das Verbot von CO2-Emissionen, von Feinstaub in der Luft, von Plastik oder Glyphosat in der Nahrungskette, von Nitrat oder Antibiotika im Grundwasser etc. etc., was sind denn diese notwendigen Verbote anderes als eben der ausnahmslos allen zustehende Schutz der körperlichen Unversehrtheit?

„Change the system, not the climate“

Es ist durchaus offen, ob es ein anderes System (noch) schaffen kann, das Schlimmste zu verhindern – zumal sich ein anderes gegenwärtig kaum abzeichnet, zumindest nicht als konkretes Modell. Es darf allerdings als sicher angenommen werden, dass dies dem Kapitalismus und der repräsentativen Demokratie kaum gelingen wird. Politik und Wirtschaft sind frühzeitig gewarnt worden und hatten nahezu 50 Jahre Zeit, durch behutsame Lenkung die Entwicklung eines nachhaltigen Wirtschaftens auf den Weg zu bringen. Statt dessen haben sie die zerstörerischen Kräfte des kapitalistischen Systems immer mehr entfesselt. Der Kapitalismus der letzten zweihundert Jahre jedenfalls ist nur noch eines: die Bankrotterklärung der menschlichen Vernunft – und unserer demokratischen Strukturen.

Bar jeder Vernunft

Die Klimapolitik (nicht nur) der Bundesregierung ist der verzweifelte Versuch, das Ruder herumzureißen, ohne die Richtung zu wechseln. Wir haben den (leider kaum genügenden) Anspruch, innerhalb einer Generation CO2-neutral zu leben – unseren auf Verschwendung und unmäßigen Konsum ausgerichteten Lebensstil aber möchten wir eigentlich lieber nicht ändern. Langfristig soll beispielsweise das Elektroauto unsere hohen Ansprüche an individuelle Mobilität retten. Dabei übersehen wir einen entscheidenden Punkt: Was immer wir so an schädlichen Emissionen und knappen Ressourcen einsparen, es wird nicht reichen, um das Klima zu bewahren und gleichzeitig allen Menschen unseren Lebensstandard zu erlauben. Wir werden also doch lernen müssen zu verzichten! Warum karren wir beispielsweise Trinkwasser kreuz und quer durch Europa, obwohl eigentlich überall genügend sauberes Wasser lokal verfügbar ist. Damit jeder die Marke seiner Wahl trinken kann, ganz gleich, wo er ist und ganz gleich, wie teuer uns dieser Luxus zu stehen kommt?

Wie wäre es, wir fangen genau jetzt mit dem Verzicht schon mal an – zumindest da, wo es nicht einmal weh tut? Die Frage ist hier eigentlich nicht, wie und warum wir den Transport von Wasser, von einigen regionalen Ausnahmen abgesehen, verbieten sollten – die Frage ist, wie kann er überhaupt erlaubt sein?

Eine Sache für Profis

Christian Lindners abfällige Bemerkung, die streikenden Schüler könnten ja noch nicht alle globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen, Maßnahmen gegen den Klimawandel seien daher eine Sache für Profis, offenbart ein jede Vorstellungskraft übersteigendes Maß an Ignoranz. Kennen wir die Probleme denn erst seit gestern? Der Bericht des Club of Rome liegt nunmehr 47 (!) Jahre zurück, knapp zehn Jahre später wurde er noch einmal seitens der US-Regierung bestätigt (Global 2000) – die Experten jedenfalls waren sich schon damals einig. Und die Profis? Nun, die hatten ihre Chance und wussten sie nicht zu nutzen, im Gegentei! Nun aber wird die Zeit knapp – zu knapp, um noch länger auf diese Profis zu warten …

Denn wir wissen, was wir tun

Früher konnten sich die Menschen damit herausreden, sie hätten um die langfristigen Folgen ihres Tuns nicht gewusst, nicht wissen können. Heute aber, spätestens seit dem ersten Bericht des Club of Rome, können wir uns nicht mehr darauf zurückziehen, in bester Absicht oder auch einfach nur zweckrational gehandelt zu haben. Heute sind wir nicht nur verantwortlich, sondern vor allem auch schuldig. Bisher allerdings noch in dem Wissen, dass uns niemand zur Rechenschaft ziehen wird – aber das wird sich ändern.

Entschädigung statt Verantwortung?

Die Politik, aktuell in Person von Rainer Haseloff, will uns – ganz im Interesse der Energiekonzerne – Glauben machen, dass bei einem vorzeitigen Abschalten der Kohlekraftwerke Entschädigungszahlungen fällig würden?1 Auf welcher Grundlage? Die Konzerne betreiben seit Generationen Raubbau an unseren Lebensgrundlagen – woraus sollte sich der vermeindliche Anspruch auf Kompensation herleiten? Weil Kapital, das in die Fortsetzung dieses Raubbaus investiert wurden, nicht mehr die erhoffte Rendite erwirtschaftet – vielleicht in Gänze abgeschrieben werden muss? Ein höchst zweifelhaftes Verständis von unternehmerischem Risiko.

Die Gesellschaft jedenfalls schuldet den Konzernen nichts, ganz gleich, was irgendwelche Politiker ihnen versprochen haben. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: die Gesellschaft, vor allem die künftigen Generationen haben da noch eine Rechnung offen: mit den Shareholdern und den Politikern, die den Klimaschutz seit mindestens zwei Jahrzehnten verschlafen haben und alles gemacht haben, damit jene ihre Schäfchen ins Trockene bringen konnten und auch weiterhin können. Sie alle sollten sich glücklich schätzen, wenn man sie dereinst nicht zur Kasse bittet oder gar zur Verantwortung zieht.

https://www.sueddeutsche.de/politik/kohlegipfel-im-kanzleramt-bund-sagt-kohlelaendern-langfristige-hilfen-zu-1.4289775